Ihren Hartz 4 (Arbeitslosengeld 2) Anspruch gegenüber dem Jobcenter durchsetzen - Wir machen das für Sie!

Urteile

 

Die Nutzungsüberlassung eines Kraftfahrzeugs an einen Arbeitnehmer stellt keine Einnahme des Arbeitnehmers in Geldeswert dar.

Landessozialgericht Baden-Württemberg, Urteil vom 23. Februar 2016 – L 9 AS 2108/13 –, juris

 

Mehrfache Mittelzweckentfremdung: Keine Übernahme der Mietrückstände!

 

 

Die wiederholte zweckwidrige Mittelverwendung für Mietzahlungen spricht dafür, dass der Leistungsempfänger bewusst die Miete nicht zahlt im Vertrauen darauf, dass Rückstände später übernommen werden. In einem solchen Fall sozialwidrigen Herbeiführens von Mietrückständen trotz ausreichender Mittel erscheint eine Hilfegewährung nicht gerechtfertigt.*

LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 13.03.2013 - L 2 AS 842/13 ER-B

SGB II § 22

Problem/Sachverhalt

Die Mieterin erhält Leistungen nach dem SGB II (Hartz 4). Während des Leistungsbezugs erhält die Mieterin einen einkommensorientierten Mietzuschuss sowie aufstockend den Restbetrag der Miete als SGB II-Leistungen. Dennoch wird in diesem Zeitraum der einkommensorientierte Mietzuschuss nicht an den Vermieter weitergeleitet. Während der Unterbrechung des Leistungsbezugs über einen Zeitraum von drei Monaten laufen weitere erhebliche Mietrückstände auf. Nach Wiederaufnahme des Leistungsbezugs werden die Kosten für Unterkunft seitens des Jobcenters übernommen, jedoch nicht oder nicht vollständig an den Vermieter weitergeleitet. Im Ergebnis betrug der Rückstand gegenüber dem Vermieter ca. 3.100 Euro. Die Mieterin hat beim Jobcenter die Übernahme der Mietschulden als Darlehen gemäß § 22 Abs. 8 SGB II beantragt. Dies lehnte das Jobcenter ab. Ein Antrag der Mieterin auf einstweiligen Rechtsschutz wird vom Sozialgericht zurückgewiesen. Dagegen richtet sich die Beschwerde der Mieterin beim LSG.

Entscheidung

Ohne Erfolg! Nach § 22 Abs. 8 SGB II können, sofern Leistungen für Unterkunft und Heizung erbracht werden, auch Schulden übernommen werden, soweit dies zur Sicherung der Unterkunft oder zur Behebung einer vergleichbaren Notlage gerechtfertigt ist. Die Schulden sollen übernommen werden, wenn dies gerechtfertigt und notwendig ist und sonst Wohnungslosigkeit einzutreten droht. Vorliegend hat das LSG das Vorliegen des Tatbestandsmerkmals "gerechtfertigt" verneint. Grundsätzlich kommt es auf die Umstände des Einzelfalls an, wobei die Höhe der Rückstände, ihre Ursachen, das Alter sowie eventuelle Behinderungen der jeweiligen Mitglieder einer Bedarfsgemeinschaft, das in der Vergangenheit vom Hilfesuchenden gezeigte Verhalten (erstmaliger oder wiederholter Rückstand, eigene Bemühungen, die Notsituation abzuwenden und die Rückstände auszugleichen) und ein erkennbarer Wille zur Selbsthilfe zu berücksichtigen sind (vgl. LSG Bayern, Beschluss vom 21.12.2012 - L 11 AS 850/12 B ER; LSG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 29.03.2012 - L 3 AS 28/12 B ER). Die Mieterin ist bereits wiederholt mit Mietzahlungen in Rückstand geraten, obwohl das Jobcenter entsprechende Leistungen bewilligt hat. Die wiederholte zweckwidrige Mittelverwendung spricht dafür, dass die Mieterin bewusst die Miete nicht bezahlte im Vertrauen darauf, dass Rückstände später übernommen werden. In einem solchen Fall sozialwidrigen Herbeiführens von Mietrückständen trotz ausreichender Mittel erscheint eine Hilfsgewährung nicht gerechtfertigt (LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 01.03.2011 - L 12 AS 622/11 ER-B).

Praxishinweis

Noch nicht geklärt ist die Frage, ob eine Schuldübernahme nach § 22 Abs. 8 SGB II nur dann in Betracht kommt, wenn der Hilfebedürftige nach den Gesamtumständen unverschuldet in Rückstand geraten ist. Sind jedoch die Rückstände durch eine rechtswidrige Leistungsablehnung des Grundsicherungsträgers entstanden, so ist die Übernahme der Schulden gerechtfertigt und das Übernahmeermessen des Jobcenters auf Null reduziert (LSG Hamburg, Beschluss vom 24.01.2008 - L 5 B 504/07 ER AS; Berlit in LPK - SGB II, 4. Auflage, § 22 Rz. 188).

 

RA, FA für Miet- und Wohnungseigentumsrecht und FA für Sozialrecht Maik Fodor, Friedrichshafen

© id Verlag

 

Mietrecht – Leistungsbescheid rechtswidrig: Kein Regress gegen Vermieter

 

LSG Bayern, Urteil vom 21.01.2013 – L 7 AS 381/12

BGB, § 812 Abs. 1; SGB I, § 53 Abs. 6; SGB II 2006, § 22 Abs. 4, 7; SGB X, §§ 44, 45, 48, 50 Abs. 1, 3 S. 2

1. Ein Vermieter, dem das Jobcenter die Wohnungsmiete gem. § 22 Abs. 7 SGB II direkt überweist, erhält dadurch keinen Leistungsanspruch, nur eine Emp-fangsberechtigung. Durch die Direktzahlung an den Vermieter erbringt das Jobcenter eine Leistung an den Leistungsberechtigten, dem das Arbeitslosen-geld II bewilligt wurde.*

2. Wenn die Leistungsbewilligung rechtswidrig ist oder wird, kann das Jobcenter den Bescheid zurücknehmen oder aufheben und von den Leistungsberechtig-ten die Erstattung der an den Vermieter überwiesenen Miete verlangen. Den Vermieter kann das Jobcenter nicht gem. § 50 SGB X durch Verwaltungsakt zur Erstattung der Miete verpflichten.

3. Die §§ 44 ff. SGB X sind ein geschlossenes System für die Aufhebung und Er-stattung von zu Unrecht erbrachten Leistungen im Verhältnis zum Leistungsbe-rechtigten und schließen einen öffentlich-rechtlichen Erstattungsanspruch ge-genüber dem Leistungsberechtigten aus.*

 

Sachverhalt

Ein Mieter erhält Leistungen nach dem SGB II (Hartz IV). Das Jobcenter zahlt die Miete direkt an den Vermieter. Das Jobcenter hebt für ei-nen Monat die Bewilligung per Bescheid ge-genüber dem Mieter auf. Ebenso verlangt das Jobcenter vom Vermieter die für diesen Monat gezahlte Miete zurück. Der Vermieter kommt der Aufforderung des Jobcenters nicht nach. Daraufhin erhebt das Jobcenter Klage. Das Sozialgericht weist die Klage ab. Dagegen richtet sich die Berufung des Jobcenters.

Entscheidung

Ohne Erfolg! Dem Jobcenter steht kein öffentlich-rechtlicher Erstattungsanspruch zu. Nach den allgemeinen Grundsätzen des Verwaltungsrechts, insbesondere dem Prinzip der Gesetzesmäßigkeit der Verwaltung ist beim öffentlich-rechtlichen Erstattungsanspruch eine Analogie zu den §§ 812 ff. BGB vorzunehmen. Ein etwaiger öffentlich-rechtlicher Erstattungsanspruch besteht aufgrund des Vorrangs der Leistungskonditionen nicht. Bereicherungsrechtliche Leistungsbeziehungen, die nach §§ 812 ff. BGB abzuwickeln wären, bestehen bei dieser Konstellation zum einen im Verhältnis Jobcenter zu Mieter (Deckungsverhältnis), zum anderen im Verhältnis Mieter zu Vermieter (Valutaverhältnis). Erfolgt die Vermögensschiebung wie vorliegend durch Leistung, also aufgrund bewusster und zweckgerichteter Vermehrung fremden Vermögens ist nach den Grundsätzen zu § 812 Abs. 1 S. 1 Alternative 1 BGB der Vorrang der Leistungsbeziehung zu beachten. Dies bedeutet, dass der Gläubiger des Erstattungsanspruches wegen desselben Gegenstandes keinen Anspruch auf Bereiche-rung in sonstiger Weise (§ 812 Abs. 1 S. 1 Alternative 2 BGB) gegen einen Dritten haben kann. Deshalb kommt in einer Dreierkonstellation, sofern es in einer Rechtsbeziehung in einem rechtlichen Grund für die erbrachte Leistung fehlt, ein Erstattungsanspruch grundsätz-lich nur zwischen den in dieser Rechtsbezie-hung Beteiligten in Betracht (Pahlandt /Sprau, BGB, 72. Auflage 2013, § 812 Rnr. 7, 54 ff., 63, ff.). Dieser Vorrang der Leistung vor der Eingriffskoordination bejaht auch das Bundes-sozialgericht (BSG, Urteil vom 28.08.2008, B 8 SO 23/07). Deshalb war die Klage abzuweisen.


Praxishinweis

Das Landessozialgericht prüft das Ergebnis selbst auf Praxistauglichkeit. So führt es rich-tigerweise aus, dass es nur schwer vorstellbar sei, dass ein Vermieter, der eine Direktzahlung nach § 22 Abs. 7 SGB II erhält, im Wege des öffentlich-rechtlichen Erstattungsanspruches die Risiken der Behörde zu übernehmen hat, die in einer Leistungsbewilligung enthalten sein können. 

 

© Maik Fodor, Kubon Rechtsanwälte, Friedrichshafen

 

 

SG Leipzig hält gesetzliche Regelung des zu den Kosten der Unterkunft (§ 22 I 1 SGB II) für verfassungswidrig!

Urteil des Sozialgerichts Leipzig vom 15.2.2013 mit dem Aktenzeichen S 20 AS 2707/12

Sachverhalt:

Die Beteiligten streiten um Leistungen für Unterkunft und Heizung nach dem SGB II.

Der 49-jährige, alleinstehende Kläger ist schon seit geraumer Zeit erwerbslos und bezieht Alg-II. Ende des Jahres 2011 wurde er obdachlos. Mitte März 2012 kam es zwischen dem Kläger und der Wohnungsbau-Genossenschaft „K…“ zum Abschluss eines Mietvertrages über eine Wohnung in der B…-Straße in L... Dies teilte der Kläger dem Beklagten mit Schreiben vom 21.03.2012 unter Vorlage des Mietvertrages mit. Der danach ab 01.06.2012 zu zahlende Mietzins belief sich -einschließlich Nebenkostenvorauszahlung- auf monatlich 342,41 € (§§ 2; 3 des Mietvertrages). Am 11.07.2012 erließ der Beklagte einen Bescheid, mit dem er dem Kläger im genannten Zeitraum für Unterkunft und Heizung nicht die vollständige Kosten der Unterkunft und Heizung, sondern monatlich nur 303,90 € bewilligte. Dagegen richtet sich die vorliegende Klage.

Das Sozialgericht Leipzigsieht dies anderes und gibt dem Hartz 4 Empfänger Recht!


Entscheidungsgründe:

Der Kläger kann für die Zeit vom 01.06. bis 31.08.2012 für Unterkunft und Heizung höhere Leistungen beanspruchen, als ihm vom Beklagten bislang bewilligt und gewährt wurden. Als Bedarf für Unterkunft und Heizung sind die tatsächlichen Aufwendungen anzuerkennen. Tatsächlich hat der Beklagte dem Kläger jedoch für Unterkunft und Heizung im streitigen Zeitraum monatlich nur 303,90 €, mithin 98,51 € zu wenig, bewilligt. Der Leistungsanspruch des Klägers war nicht auf den bewilligten Betrag von 303,90 € begrenzt. Denn die tatsächlichen Unterkunftskosten waren angemessen im Sinne von § 22 Abs. 1, S.1, 2. HS SGB II. Was insoweit unter Angemessenheit zu verstehen ist, darüber besteht derzeit Unsicherheit. Der Gesetzgeber selbst hat den Begriff nicht näher definiert oder konkretisiert, weder im SGB II noch andernorts. Die Dokumente zur Entstehungsgeschichte des SGB II geben ebenfalls nur wenig her. Ihnen ist lediglich zu entnehmen, dass sich der Begriff der Angemessenheit am Maßstab der bis dahin geltenden Sozialhilfepraxis – nach dem BSHG – orientieren soll (BT-Drucks. 15/1516, S. 57). Entgegen der -ursprünglichen- gesetzgeberischen Vorstellung (vgl. BT-Drucks. a.a.O.) wurde jedoch nach Einführung des SGB II von der sozialgerichtlichen Rechtsprechung ein anderer Weg beschritten und bei der Frage nach der Angemessenheit der Unterkunftskosten auf die Werte der Wohngeldtabelle nach dem Wohngeldgesetz (WoGG) zurückgegriffen (u.a. LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 23.03.2006, Az.: L 8 AS 388/05). Dem hat jedoch das Bundessozialgericht (BSG) in der Folge eine Absage erteilt. Die Frage der Angemessenheit sei vielmehr in mehreren Schritten, nämlich anhand des Produkts aus Wohnfläche, Wohnungsstandard und Höhe des Mietzinses zu bestimmen (u.a. BSG, Urteil vom 07.11.2007, Az.: B 7b AS 10/06 R; Urteil vom 07.11.2006, Az.: B 7b AS 18/06 R; ebenso Berlit in: LPK-SGB II, 4. Auflage, § 22, Rdnr. 40 ff; ferner Lang/Link in: Eicher/Spellbrink, SGB II, 2. Auflage, § 22, Rdnr. 41 ff.). Dafür sei auf die Gegebenheiten am Wohnort des Hilfebedürftigen abzustellen. Zu deren Feststellung müsse der Grundsicherungsträger auf hinreichend zuverlässiges Datenmaterial zurückgreifen, z.B. einen qualifizierten Mietspiegel oder ein sogenanntes „schlüssiges Konzept“. Nur wenn keine derartigen Erkenntnisquellen vorhanden seien, dürfe auf die Werte nach dem WoGG zurückgegriffen werden (u.a. BSG, Urteil vom 19.03.2008, Az.: B 11 b AS 43/06 R; Urteil vom 18.06.2008, Az.: B 14/7 b AS 44/06 R; Urteil vom 22.09.2009, Az.: B 4 AS 18/09 R; Urteil vom 17.12.2009, Az. B 4 AS 50/09 R).


Es muss aber die Frage aufgeworfen werden, ob sie tatsächlich (noch) dem erklärten Willen des Gesetzgebers entspricht. Denn das Bundesministerium für Arbeit und Soziales verweist in der neuesten Ausgabe (Januar 2013) seiner Broschüre „Grundsicherung für Arbeitssuchende – SGB II – Fragen und Antworten“ (siehe: http://www.bmas.de/SharedDocs/Downloads/DE/PDF-Publikationen/a430-grundsicherung-fuer-arbeitsuchende-sgb-ii.pdf?__blob=publicationFile – Seite 81, Ziff. 66) zur Frage der Angemessenheit von Unterkunftskosten selbst auf das WoGG. Die erkennende Kammer vermag sich aber letztlich aus folgenden Überlegungen der derzeitigen Rechtspraxis nicht anzuschließen.§ 22 Abs. 1, S. 1 SGB II genügt nicht den verfassungsrechtlichen Anforderungen. Das Gesetz duldet nämlich an dieser Stelle keine Unbestimmtheit. Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat in seinem Urteil vom 09.02.2010 (Az. 1 BvL 1/09; 1 BvL 3/09; 1 BvL 4/09) ausgeführt: „…Die Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums muss durch einen gesetzlichen Anspruch gesichert sein (Rn.136)…Der gesetzliche Leistungsanspruch muss so ausgestaltet sein, dass er stets den gesamten existenznotwendigen Bedarf jedes individuellen Grundrechtsträgers deckt. Wenn der Gesetzgeber seiner verfassungsmäßigen Pflicht zur Bestimmung des Existenzminimums nicht hinreichend nachkommt, ist das einfache Recht im Umfang seiner defizitären Gestaltung verfassungswidrig (Rn. 137)…Der Umfang des Anspruchs…ist danach vom Gesetzgeber konkret zu bestimmen…Ihm obliegt es, den Leistungsanspruch in Tatbestand und Rechtsfolge zu konkretisieren (Rn. 138)... Zur Konkretisierung des Anspruchs hat der Gesetzgeber alle existenznotwendigen Aufwendungen folgerichtig in einem transparenten und sachgerechten Verfahren nach dem tatsächlichen Bedarf, also realitätsgerecht, zu bemessen (Rn. 139)…“.

Daraus folgt: Es ist weder Aufgabe der Verwaltung noch der Rechtsprechung die Höhe bzw. den Umfang des sich aus § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II ergebenden Leistungsanspruchs zu bestimmen. Dies ist allein Sache des Gesetzgebers und zwar, da es sich beim SGB II um Bundesrecht handelt, primär des Bundesgesetzgebers. Denn auch die Leistungen für Unterkunft und Heizung gehören mit zum existenznotwendigen Bedarf. Letzteres ist dem Gesetzgeber durchaus bewusst (siehe BT-Drucks. 17/3404, Seite 42 – 44). Die derzeit geltende Regelung ist jedoch als gesetzliche Grundlage für einen individuellen Sozialleistungsanspruch in Tatbestand und Rechtsfolge gerade nicht hinreichend bestimmt. Denn ließen sich angemessene Kosten ebenso einfach und klar bestimmen wie tatsächliche Kosten, gäbe es nicht schon seit Jahren die andauernde Flut von Rechtsstreitigkeiten um die von den Leistungsträgern anzuerkennenden Unterkunftskosten. Auch dies ist dem Gesetzgeber bewusst (BT-Drucks. 17/3404, Seite 44 und 99). Durch die Satzungslösung (§§ 22 a – c SGB II) ist bislang noch keine Abhilfe geschaffen. Die oben zitierten Forderungen des BVerfG sind dadurch weder konsequent noch umfassend umgesetzt (so aber BT-Abgeordneter Dörflinger, CDU-CSU-Fraktion, Rede vom 27.09.2012 zu Kosten der Unterkunft und Heizung). Die eigentliche Problemlösung, die Konkretisierung des sich aus § 22 Abs. 1 S. 1 SGB II ergebenden Anspruchs, ist nur verschoben, nämlich auf die nachgeordneten Gesetzgebungsinstanzen, die Länder und Kommunen. Ob auch sie als „der Gesetzgeber“ im Sinne der oben zitierten Entscheidung des BVerfG anzusehen sind, kann hier dahinstehen. Denn jedenfalls hat der Freistaat Sachsen hat von der Ermächtigung nach § 22 a SGB II -soweit ersichtlich- bislang keinen Gebrauch gemacht. Allein die sächsische VwV-Wohnflächenhöchstgrenzen vom 07.06.2010 führt nicht weiter. Denn sie verhält sich ausschließlich zum Wohnflächenbedarf, aber nicht zum Unterkunftsbedarf insgesamt.

Deshalb kann auch dahinstehen, ob die vom Beklagten derzeit zur Bemessung der Unterkunftskosten von Alg-II-Empfängern herangezogene städtische Richtlinie den Anforderungen an ein „schlüssiges Konzept“ genügt.

Bis zum Vorliegen eines vom BVerfG geforderten, hinreichend konkreten Gesetzes zum existenznotwendigen Unterkunftsbedarf stellt sich für die Rechtsprechung und Verwaltung nur die Frage, ob und ggf. wie § 22 Abs. 1, S. 1 SGB II verfassungskonform ausgelegt werden kann (Benda/Klein, Verfassungsprozessrecht, 2. Auflage, Heidelberg 2001, Seite 531, Rn. 1284 ff). Eine verfassungskonforme Interpretation ist aus Sicht der Kammer möglich. Denn die Regelung erscheint nicht insgesamt verfassungswidrig. Verfassungswidrigkeit ist der Ausnahmefall, wenn der Gesetzesverstoß evident ist (Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Auflage, Heidelberg 1999, Seite 31 mit Verweis auf BVerfGE 9, 167, 174 sowie BVerfGE 12, 281, 296). § 22 Abs. 1 S. 1 SGB II ist jedoch nicht völlig unklar bzw. unbestimmt. Die Vorschrift wird es nur durch den angehängten zweiten Halbsatz. Erst dieser stellt den sich aus dem ersten Halbsatz zunächst eindeutig ergebenden Leistungsanspruch wieder in Frage. Allerdings kann der zweite Halbsatz, nicht vollständig außer Acht gelassen werden. Damit wäre die Grenze verfassungskonformer Auslegung überschritten. Der Regelung wäre inhaltlich ein gänzlich anderer Wortlaut gegeben, der zudem dem erkennbaren Willen des Gesetzgebers ersichtlich zuwiderliefe (BVerfGE 54, 277, 299; BVerGE 90, 263, 275). Denn über das Tatbestandsmerkmal der Angemessenheit wollte der Gesetzgeber den Leistungsanspruch ersichtlich der Höhe nach begrenzen. Dem folgend legt die Kammer die Vorschrift so aus, dass vorrangig der Teil maßgeblich ist, der den verfassungsrechtlichen Vorgaben genügt. Das ist der erste Halbsatz, der auf die tatsächlichen Kosten abstellt. Der verbleibende Teil, der defizitäre zweite Halbsatz, ist lediglich in Ausnahmefällen heranzuziehen. Er kann vorläufig nur als eine Art Korrektiv dienen, nämlich dann, wenn die Unterkunftsverhältnisse bzw. -kosten in einem offensichtlichen Missverhältnis zu den sonstigen Lebensumständen des Alg-II-Empfängers stehen. Mit anderen Worten: Das Maß ist überschritten, wenn Empfänger von Sozialleistungen in Luxusunterkünften wohnen. Bewegen sich die Unterkunftsverhältnisse bzw. -kosten hingegen im gewöhnlichen, d.h. durchschnittlichen Rahmen, sind sie vollständig zu übernehmen (ähnlich: SG Mainz, Urteil vom 08.06.2012, Az. S 17 AS 1452/09). Im vorliegenden Fall sind die Kosten des Klägers, die dieser im fraglichen Zeitraum für seine Wohnung aufzuwenden hatte, vollständig zu übernehmen, weil weder die Wohnung als solche noch die zu zahlende Miete in einem auffälligen Missverhältnis zu seinen sonstigen Lebensumständen standen. Insoweit bedarf es in tatsächlicher Hinsicht, namentlich in Bezug auf Lage, Größe und Ausstattung der Wohnung, keiner weiteren Feststellungen mehr. Dass kein evidentes Missverhältnis vorliegt, zeigt schon der Vergleich zwischen der Höhe der laut Mietvertrag geschuldeten Miete im Vergleich zum Höchstbetrag gemäß § 12 WoGG. Letzterer beläuft sich, da die Stadt L... dort zur Mietenstufe III gehört, für einen Ein-Personen-Haushalt auf 330,00 €. Die Differenz zur Kaltmiete des Klägers (einschließlich Nebenkosten) beträgt also gerade mal 12,41 €. Dies stellt keinen Fall augenfälliger Unangemessenheit dar.

 

Keine Minderung des Bedarfs bei nicht geflossenen (fiktiven) Einnahmen!

Urteil des Bundessozialgericht vom 29.11.2012 mit dem Aktenzeichen B 14 AS 161/11 R

Sachverhalt:

Am 19.4.2007 schloss der Kläger (Hartz 4 Empfänger)  mit einer anderen Person einen Untermietvertrag, wonach für das halbe Zimmer der Wohnung (ca 8 qm) 211 Euro monatlich gezahlt werden sollten, also die Hälfte der Kaltmiete und der kalten Betriebskosten. Der Untermieter zahlte den Mietzins an den Kläger nicht, obwohl ihm - dem Untermieter - zumindest teilweise Leistungen für die Kosten der Unterkunft und Heizung durch den Beklagten bewilligt worden waren. Der Kläger kündigte den Untermietvertrag und der Untermieter zog aus, ohne den geschuldeten Mietzins zu zahlen. Der Kläger machte seine Mietzinsansprüche nicht gerichtlich geltend. Im Juni 2007 erhielt der Beklagte (Jobcenter) Kenntnis davon, dass der Vermieter am 19.4.2007 die Erlaubnis für die Untervermietung erteilt hatte. Am 15.6.2007 stellte der Kläger einen Antrag für den folgenden Bewilligungsabschnitt und gab dabei an, dass sich hinsichtlich der Kosten der Unterkunft und Heizung keine Änderung ergeben habe. Bei einem Vorsprachetermin am 17.7.2007 bat der Kläger den Beklagten, die Miete voll zu berücksichtigen, da sein Mitbewohner ohne Vorankündigung ausgezogen sei und seinen Mietanteil nie gezahlt habe. Mit Bescheid vom 23.7.2007 hob der Beklagte den Bescheid vom 5.3.2007 für die Zeit vom 1.4. bis 30.6.2007 teilweise in Höhe von 543,59 Euro auf und begründete dies mit der Untervermietung in der Zeit vom 19.4. bis 15.7.2007. Der Kläger habe in dieser Zeit nur einen Anspruch auf die halbe Miete gehabt, was er habe wissen müssen. Der zu Unrecht gezahlte Betrag werde zurückgefordert. Auf den Widerspruch des Klägers forderte der Beklagte mit Bescheid vom 27.9.2007 Leistungen für die Zeit vom 19.4.2007 bis zum 15.7.2007 zurück, insgesamt aber lediglich noch in Höhe von 492,85 Euro, weil im Bescheid vom 23.7.2007 versehentlich weniger als die Hälfte der Kaltmiete berücksichtigt worden sei. Mit Widerspruchsbescheid vom 2.10.2007 setzte der Beklagte einen Erstattungsbetrag in Höhe von 368,14 Euro fest. Der Widerspruch im Übrigen blieb ohne Erfolg.

Die dagegen erhobene Klage ist in beiden Instanzen ohne Erfolg geblieben (Urteil des Sozialgerichts Itzehoe vom 25.2.2010; Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts <LSG> vom 12.4.2011). 

Das Bundessozialgericht sieht dies anderes und gibt dem Hartz 4 Empfänger Recht!

Entscheidungsgründe:

Eine Bescheid kann für die Vergangenheit gem § 48 Abs 1 Satz 1 SGB X nur dann aufgehoben werden, wenn eine wesentliche Änderung in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen eingetreten ist. Dies ist vorliegend nicht der Fall


Eine Änderung der hier allein in Betracht kommenden tatsächlichen Verhältnisse liegt vor, wenn im Hinblick auf die für den Erlass des Verwaltungsakts entscheidungserheblichen tatsächlichen Umstände ein anderer Sachverhalt vorliegt (vgl Schütze in von Wulffen, SGB X, 7. Aufl 2010, § 48 RdNr 8). Der Beklagte hat im Ausgangsbescheid vom 5.3.2007 Kosten der Unterkunft und Heizung auf Grundlage des § 22 Abs 1 Satz 1 und 3 SGB II in Höhe der tatsächlichen Aufwendungen, nämlich der dem Vermieter gegenüber geschuldeten Miete, bewilligt. Er hat die tatsächlich angefallenen Kosten zwar nicht als angemessen angesehen, diese aber für den streitigen Zeitraum übernommen und den Kläger zugleich auf seine Obliegenheit zur Kostensenkung hingewiesen. In den dieser Bewilligung zugrunde liegenden tatsächlichen Verhältnissen ist weder durch die Nutzung der Wohnung durch eine weitere Peron (dazu unter a) noch durch Abschluss des Untermietvertrages (dazu unter b) eine Änderung der maßgeblichen tatsächlichen Verhältnisse eingetreten.

Die tatsächliche Nutzung der Wohnung durch zwei Personen führt vorliegend nicht zu einer Änderung der wesentlichen Verhältnisse, die bei Bewilligung der Kosten der Unterkunft und Heizung auf Grundlage des § 22 Abs 1 Satz 1 SGB II vorgelegen haben. Zutreffend ist das LSG davon ausgegangen, dass die tatsächlich gegenüber dem Vermieter angefallenen Aufwendungen für Unterkunft und Heizung nicht zwischen dem Kläger und dem Untermieter nach Kopfteilen aufzuteilen sind (zur Aufteilung nach Kopfteilen BSG vom 23.11.2006 - B 11b AS 1/06 R - BSGE 97, 265 = SozR 4-4200 § 20 Nr 3, RdNr 28; BSG vom 27.2.2008 - B 14/11b AS 55/06 R - SozR 4-4200 § 22 Nr 9 RdNr 18 f = SGb 2010, 163 ff; BSG vom 18.6.2008 - B 14/11b AS 61/06 R - SozR 4-4200 § 22 Nr 12 = SGb 2009, 614 ff; BSG vom 27.1.2009 - B 14/7b AS 8/07 R - SozR 4-4200 § 21 Nr 4 RdNr 19; BSG vom 24.2.2011 - B 14 AS 61/10 R - SozR 4-4200 § 22 Nr 44 RdNr 18). Hintergrund für das auf das Bundesverwaltungsgericht (vom 21.1.1988 - 5 C 68/85 - BVerwGE 79, 17) zurückgehende "Kopfteilprinzip" sind Gründe der Verwaltungsvereinfachung sowie die Überlegung, dass die gemeinsame Nutzung einer Wohnung durch mehrere Personen (regelmäßig Familienangehörige) deren Unterkunftsbedarf dem Grunde nach abdeckt und in aller Regel eine an der unterschiedlichen Intensität der Nutzung ausgerichtete Aufteilung der Aufwendungen für die Erfüllung des Grundbedürfnisses Wohnen nicht zulässt. Wie der Senat bereits entschieden hat, liegt eine solche Situation nicht vor, wenn der Nutzung durch mehrere Personen bindende vertragliche Regelungen zugrunde liegen (BSG vom 18.6.2008 - B 14/11b AS 61/06 R - SozR 4-4200 § 22 Nr 12 RdNr 19; BSG vom 29.11.2012 - B 14 AS 36/12 R - zur Veröffentlichung in SozR vorgesehen, RdNr 28). Dies ist nach den Feststellungen des LSG vorliegend aber der Fall.

Allein durch die rechtliche Verpflichtung eines Untermieters zur Zahlung des Mietzinses an den Hauptmieter verändern sich die für die Bewilligung von Leistungen für Unterkunft und Heizung maßgeblichen tatsächlichen Verhältnisse nicht, weil allein durch den Vertragsschluss am 19.4.2007 die dem Vermieter geschuldeten und damit grundsätzlich (im Rahmen ihrer Angemessenheit) zu berücksichtigenden Unterkunftskosten nicht berührt werden. Der Untermietvertrag setzt die rechtliche Verpflichtung des Hauptmieters zur Zahlung des vollen Mietzinses gegenüber seinem Vermieter nicht außer Kraft. Daran ändert insbesondere die vorliegend eingeholte Erlaubnis zur Untervermietung (vgl § 540 Bürgerliches Gesetzbuch) nichts, denn sie bezieht sich nur darauf, dass weitere Personen außer denen im Mietvertrag genannten die Wohnung nutzen dürfen. Sie schafft dagegen keinen Anspruch des Vermieters gegenüber dem Untermieter auf Zahlung von (Teilen der) Miete. Eine Minderung der vom Kläger tatsächlich zu erbringenden Mietzahlungen und damit die Senkung seines Bedarfs für Unterkunft und Heizung ist allein mit dem Abschluss eines Untermietvertrags zum Zwecke der Kostensenkung nicht verbunden.

Diesem Ergebnis entspricht die gefestigte Rechtsprechung des Bundessozialgerichts, wonach die Minderung eines Bedarfs anders als durch tatsächlich zufließendes Einkommen (und Vermögen) ausscheidet (BSG Urteil vom 18.2.2010 - B 14 AS 32/08 R - SozR 4-4200 § 9 Nr 9 RdNr 20 zu Unterstützungsleistungen von Verwandten; Urteil vom 18.6.2008 - B 14 AS 22/07 R - BSGE 101, 70 = SozR 4-4200 § 11 Nr 11 zur Verköstigung während eines Krankenhausaufenthalts; Urteil vom 18.6.2008 - B 14 AS 46/07 R - zur kostenlosen Verpflegung durch Familienangehörige). Nur eine tatsächlich zugeflossene Einnahme ist als "bereites Mittel" geeignet, den konkreten Bedarf im jeweiligen Monat zu decken; die Anrechnung einer fiktiven Einnahme zur Bedarfsminderung ist nach dem System des SGB II dagegen ausgeschlossen (vgl BSG Urteil vom 18.2.2010 - B 14 AS 32/08 R - SozR 4-4200 § 9 Nr 9 RdNr 20; Urteil vom 10.5.2011 - B 4 KG 1/10 R - BSGE 108, 144 = SozR 4-5870 § 6a Nr 2, RdNr 21; Urteil vom 21.6.2011 - B 4 AS 21/10 R - BSGE 108, 258 = SozR 4-4200 § 11 Nr 39, RdNr 29; BSG Urteil vom 29.11.2012 - B 14 AS 33/12 R - zur Veröffentlichung in SozR vorgesehen).

Nach den Feststellungen des LSG ist dem Kläger vorliegend im streitigen Zeitraum keine Untermiete zugeflossen. Es kann deshalb offen bleiben, ob im Falle des Zuflusses von Einkommen aus einem Untermietverhältnis die Untermiete in Abweichung von § 19 Abs 3 SGB II dem Bedarf für Unterkunft zugeordnet werden kann (so Berlit in LPK-SGB II, 4. Aufl 2011, § 22 RdNr 22; Lauterbach in Gagel, SGB II/SGB III, § 22 RdNr 18; ggf als Guthaben, dass dem Bedarf für Unterkunft und Heizung zuzuordnen ist, vgl dazu zu § 22 Abs 1 Satz 4 SGB II in der bis zum 31.12.2010 geltenden Fassung, BSG Urteil vom 16.5.2012 - B 4 AS 132/11 R - SozR 4-4200 § 22 Nr 60) oder ob mangels Ausnahmeregelungen hier und in § 11 Abs 2 SGB II (nunmehr § 11a SGB II) sowie der Arbeitslosengeld II/Sozialgeld-Verordnung die Einnahmen aus Untervermietung als Einkommen zählen, das beim Regelbedarf zu berücksichtigen ist (dazu Krauß in Hauck/Noftz, SGB II, Stand 10/12, K § 22 RdNr 54).

Es kann ebenso dahin stehen, ob der Anspruch gegen den früheren Untermieter, der nunmehr im Irak lebt und zu dem der Kläger keinen Kontakt mehr hat, im Zeitraum, für den der Beklagte die Bewilligung teilweise aufgehoben hat, überhaupt realisierbar war (oder es heute noch ist). Wäre der Anspruch gegen den Untermieter ohne Weiteres zu realisieren gewesen, könnte zwar eine Ausnahme von der Übernahme der tatsächlichen gegenüber dem Vermieter geschuldeten Aufwendungen zu erwägen sein (ähnlich zur Absenkung der Kosten der Unterkunft bei unwirksam vereinbarten Teilen der Miete BSG Urteil vom 22.9.2009 - B 4 AS 8/09 R - BSGE 104, 179 = SozR 4-4200 § 22 Nr 24, RdNr 16, 21). Der Träger der Grundsicherung müsste den Hilfebedürftigen in einem solchen Fall aber vor Absenkung der Kosten der Unterkunft und Heizung bei der Geltendmachung berechtigter Ansprüche unterstützen und ihn dahingehend instruieren, welche Maßnahmen zu ergreifen sind, um einen Anspruch geltend machen zu können (zu diesem besonderen Kostensenkungsverfahren im Einzelnen BSG aaO RdNr 23; BSG Urteil vom 24.11.2011 - B 14 AS 15/11 R - SozR 4-4200 § 22 Nr 53 RdNr 16 und BSG Urteil vom 16.5.2012 - B 4 AS 132/11 R - SozR 4-4200 § 22 Nr 60 RdNr 22). Dies ist hier nicht geschehen. Einer missbräuchlichen Vertragsgestaltung (insbesondere ein Abschluss eines Mietvertrages zum Schein), die der Beklagte für naheliegend hält, kann im Übrigen nur im Rahmen des vom SGB II für sozialwidriges Verhalten vorgegebenen Instrumentariums, insbesondere über § 34 SGB II begegnet werden; entsprechendes Verhalten ist - wie auch das Verschweigen von tatsächlich vom Untermieter erhaltenen Leistungen für Unterkunft und Heizung - zudem ggf strafrechtlich relevant.
 

Verfahrensgang

SG Itzehoe - S 13 AS 397/07 -
Schleswig-Holsteinisches LSG - L 6 AS 37/10 -
Bundessozialgericht - B 14 AS 161/11 R -

 

Quelle: www.bundessozialgericht.de
 

 

BSG (15.6.2016, B 4 AS 36/15 R) hält isolierte Klage gegen Kostensenkungsaufforderung für zulässig!

Die Klage auf Feststellung des Nichtbestehens einer Kostensenkungsobliegenheit ist zulässig (BSG, Urteil vom 15.6.2016, B 4 AS 36/15 R). Nur durch eine Feststellungsklage kann hier dem verfassungsrechtlichen Gebot aus Art. 19 Abs. 4 GG, effektiven Rechtsschutz zu gewährleisten, Rechnung getragen werden. Weil existenzsichernde Leistungen im Streit stehen, ist es den Klägern nicht zumutbar, abzuwarten, ob und wann der Beklagte eine Kostensenkung vornimmt. Auch auf eine Anfechtungsklage können die Kläger nicht verwiesen werden. Eine Kostensenkungsaufforderung ist nach der bisherigen Rechtsprechung des BSG, die zu ändern kein Anlass bestanden hat, nicht als Verwaltungsakt anzusehen. Die auf eine Kostensenkungsobliegenheit gerichtete Feststellungsklage ist jedoch nur dann zulässig, wenn – wie hier – durch sie eine Klärung des Streites im Ganzen ermöglicht wird. Sie ist zugleich ultima ratio und kann nicht mit der allgemeinen Behauptung begründet werden, der Beklagte habe der Kostensenkungsaufforderung eine unzutreffende Angemessenheitsgrenze zugrunde gelegt. Ein Feststellungsinteresse besteht nur dann, wenn eine Unzumutbarkeit oder Unmöglichkeit der Kostensenkung geltend gemacht wird.

 

Medieninformation Nr. 7/16 des Bundessozialgericht  vom 9.3.2016

Aufrechnung in Höhe von 30% mit der Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums vereinbar!


Der 1961 geborene, alleinstehende Kläger ist aufgrund von zwei Aufhebungs- und Erstattungsbescheiden aus dem Jahr 2007 dem Beklagten zur Erstattung von Leistungen nach dem SGB II in Höhe von 8352,03 Euro verpflichtet, die ihm zwischen Januar 2005 und September 2007 zu Unrecht erbracht worden waren. Anlass hierfür war der Bezug von Einkommen, den der Kläger dem Beklagten vorsätzlich nicht mitgeteilt hatte, weshalb er vom Amtsgericht Osnabrück rechtskräftig wegen Betruges verurteilt worden ist. Nach erfolglosem Klageverfahren gegen die Aufhebungs- und Erstattungsbescheide sind diese im Jahr 2012 bestandskräftig geworden. Hierauf erklärte der Beklagte nach Anhörung des Klägers die Aufrechnung in Höhe von 30% des für diesen jeweils maßgebenden Regelbedarfs. Ermessensgesichtspunkte, um von einer Aufrechnung auch nur teilweise abzusehen, seien nicht ersichtlich. Hinsichtlich der Höhe sei kein Ermessen eingeräumt; aus dem auf § 45 Abs 2 SGB X beruhenden Erstattungsanspruch nach § 50 SGB X folge eine Aufrechnung von 30% des maßgebenden Regelbedarfs. Klage und Berufung gegen die Aufrechnung blieben erfolglos.

Der 14. Senat des Bundessozialgerichts hat auf die Revision des Klägers am 9. März 2016 entschieden, dass die angefochtene Aufrechnung rechtmäßig ist. Die gesetzlichen Voraussetzungen hierfür sind erfüllt (§ 43 SGB II).

Der Beklagte hat gegen den Kläger einen Erstattungsanspruch nach § 50 SGB X, der wegen vom Kläger vorsätzlich nicht mitgeteilten Einkommens auf einem ihm vorwerfbaren Verhalten beruht (§ 45 SGB X). Er hat die Aufrechnung mit diesem Erstattungsanspruch gegen den Leistungsanspruch in Höhe von 30% des für den Kläger jeweils maßgebenden Regelbedarfs diesem gegenüber nach Anhörung durch schriftlichen Verwaltungsakt erklärt. Das ihm im Rahmen der Aufrechnung eingeräumte Ermessen hat der Beklagte erkannt und pflichtgemäß ausgeübt. Dabei hat er sich mit den vom Kläger im Widerspruchsverfahren gegen eine Aufrechnung vorgebrachten Argumenten auseinander gesetzt. Ermessensfehler sind insoweit nicht ersichtlich. Gründe, von einer Aufrechnung auch nur teilweise abzusehen, hat der Beklagte nicht erkennen können. Sie drängen sich auch dem Senat nicht auf. Der Beklagte hat zudem ohne Ermessensfehler bei seiner Entscheidung berücksichtigt, dass der Kläger wegen seiner Veranlassung der zu Unrecht erbrachten Leistungen rechtskräftig wegen Betruges verurteilt worden ist.

Die gesetzliche Ermächtigung zur Aufrechnung in Höhe von 30% des Regelbedarfs über bis zu drei Jahre ist mit der Verfassung vereinbar. Das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums (Artikel 1 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 20 Absatz 1 Grundgesetz) ist als Gewährleistungsrecht auf die Ausgestaltung durch den Gesetzgeber angelegt. Gegenstand dieser Ausgestaltung sind nicht nur die Höhe der Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts und das Verfahren ihrer Bemessung, sondern können auch Leistungsminderungen und Leistungsmodalitäten sein. Die Aufrechnung nach § 43 SGB II, die die Höhe der Leistungsbewilligung unberührt lässt, aber die bewilligten Geldleistungen nicht ungekürzt dem Leistungsberechtigten zur eigenverantwortlichen Verwendung zur Verfügung stellt, ist eine verfassungsrechtlich zulässige Ausgestaltung des Gewährleistungsrechts. Dies gilt zumal für die Aufrechnung in Höhe von 30% des maßgebenden Regelbedarfs. Denn diese knüpft an eine vorwerfbare Veranlassung des Erstattungsanspruchs durch den Leistungsberechtigten und damit an seine Eigenverantwortung als Person an, die Teil der Artikel 1 Absatz 1 Grundgesetz zugrunde liegenden Vorstellung vom Menschen ist. Zudem enthalten die gesetzlichen Regelungen mit der Einräumung von Ermessen hinsichtlich des Ob und der Dauer einer Aufrechnung, der Möglichkeit einer Aufhebung des Dauerverwaltungsakts der Aufrechnung bei Änderung der Verhältnisse sowie mit der möglichen Bewilligung ergänzender Leistungen während der Aufrechnung bei besonderen Bedarfslagen hinreichende Kompensationsmöglichkeiten, um verfassungsrechtlich nicht hinnehmbaren Härten im Einzelfall zu begegnen.

QUELLE: BUNDESSOZIALGERICHT - Pressestelle -Graf-Bernadotte-Platz 5, 34119 Kassel

Medieninformation Nr. 14/13 des Bundessozialgericht  vom 23.5.2013

Jugendbett statt Kindergitterbett als "Erstausstattung"

Der im Mai 2007 geborene Kläger beantragte im Oktober 2010 beim Beklagten ein Jugendbett als Erstausstattung im Sinne des § 23 Abs 3 Satz 1 Nr 1 SGB II (heute § 24 Abs 3 Satz 1 Nr 1 SGB II). Dies lehnte der Beklagte mit der Begründung ab, der Kläger verfüge über ein Bett in Gestalt eines Kindergitterbettes. Sozialgericht und Landessozialgericht haben den Anspruch des Klägers ebenfalls verneint. Während des Berufungsverfahrens hat die Mutter des Klägers für diesen ein Bett mit Lattenrost zu einem Preis von 272,25 Euro erworben. Das Landessozialgericht hat ausgeführt, bei dem angeschafften Bett handele es sich um eine Ersatzbeschaffung, denn es sei bereits ein Bett für den Kläger im Haushalt der Mutter vorhanden gewesen. Das neue Bett habe grundsätzlich dieselbe Funktion wie das nicht mehr passende Kindergitterbett ‑ beides diene zum Schlafen. Der Bedarf nach einem neuen Bett sei lediglich wegen des Wachsens des Klägers entstanden.

Im Revisionsverfahren war der Kläger insoweit erfolgreich, als das Bundessozialgericht den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen hat. Es hat klargestellt, dass der Beklagte die Bewilligung von Leistungen für ein "Jugendbett" mit Lattenrost rechtswidrig versagt hat. Bei der erstmaligen Beschaffung eines "Jugendbettes" ‑ nachdem das Kind dem "Kinderbett" entwachsen war ‑ handelt es sich um eine Erstausstattung für die Wohnung im Sinne von § 23 Abs 3 Satz 1 Nr 1 SGB II, die auch dem Grunde nach angemessen ist. Eine abschließende Bewertung der Höhe des Erstattungsanspruchs war dem Senat nach den Feststellungen des Landessozialgerichts jedoch nicht möglich. Unschädlich ist insoweit zwar, dass das Bett für den Kläger bereits beschafft, sein Bedarf insoweit also gedeckt worden ist, und er keine Sach- oder Geldleistung vom Beklagten, sondern eine Kostenerstattung begehrt. Nicht beurteilen konnte der Senat jedoch, ob die getätigte Anschaffung der Höhe nach angemessen war. Insoweit mangelt es an Feststellungen des Landessozialgerichts.

QUELLE: BUNDESSOZIALGERICHT - Pressestelle -Graf-Bernadotte-Platz 5, 34119 Kassel

 

Medieninformation des Bundessozialgerichts vom 28.3.2012


Höhe des Regelbedarfs nach dem SGB II für ein Ehepaar mit einem zweijährigen Kind nicht verfassungswidrig zu niedrig bemessen
 

Der Beklagte bewilligte den Klägern zu 1 und 2 sowie ihrem gemeinsamen, am 15. Oktober 2009 geborenen Sohn, dem Kläger zu 3 im Mai 2011 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II in Höhe von monatlich 1182 Euro. Dabei legte er der Berechnung einen Regelbedarf für die beiden Erwachsenen in Höhe von je 328 Euro sowie für den Kläger zu 3 in Höhe von 215 Euro zu Grunde. Leistungen für Unterkunft und Heizung erbrachte er in tatsächlicher Höhe. Einen Anspruch der Kläger auf höheres Alg II und Sozialgeld hat das Sozialgericht verneint, insbesondere hat es die vom Gesetzgeber zum 1. Januar 2011 neu bestimmte Höhe der Regelbedarfe für verfassungsgemäß gehalten.


Auch in der Revisionsinstanz hatten die Kläger keinen Erfolg. Der 4. Senat des Bundessozialgerichts konnte sich in dem Verfahren B 4 AS 12/12 R am 28. März 2013 insbesondere nicht davon überzeugen, dass der Gesetzgeber die Höhe der Regelbedarfe der Kläger zum 1. Januar 2011 unter Verstoß gegen Art 1 Grundgesetz (Menschenwürde) in Verbindung mit Art 20 Grundgesetz (Sozialstaatsprinzip) zu niedrig bemessen hat. Dies gilt sowohl für den Regelbedarf eines Alleinstehenden, von dem der Regelbedarf von zwei Erwachsenen, die zusammenleben, abgeleitet ist, als auch dem von zwei Erwachsenen, in deren Haushalt ein zweijähriges Kind lebt. Ebenso wenig ist der für Kinder bis zur Vollendung des 2. Lebensjahres gesetzlich vorgesehene Bedarf in verfassungswidriger Weise zu niedrig bemessen. Sowohl die Methode (Bestimmung eines Verteilungsschlüssels für die Zuordnung der Bedarfe zu einzelnen Personen innerhalb der Familie) zur Bestimmung des kindlichen Bedarfs, als auch die Aufspaltung der Grundsicherungsleistungen in Regelbedarf sowie Bildungs- und Teilhabebedarfe führt nach Ansicht des 4. Senats nicht zu einer Verletzung von Verfassungsrecht. Regelbedarf und Bedarfe für Bildung und Teilhabe zusammengenommen decken den grundsicherungsrelevanten Bedarf von Kindern und Jugendlichen. Nicht entscheidend ist dabei, dass der Kläger zu 3 im konkreten Fall keine Teilhabeleistungen in Anspruch genommen hat und nicht festgestellt worden ist, welche Teilhabeangebote in der Wohnortgemeinde bzw dem sozialen Umfeld des Klägers zu 3 tatsächlich vorhanden sind. Die Teilhabemöglichkeiten sind zwar abhängig von den örtlichen Verhältnissen. Die Leistungsansprüche sollen jedoch lediglich gewährleisten, dass den Betroffenen eine Teilhabe im Rahmen der bestehenden örtlichen Infrastruktur ermöglicht wird. Damit reicht es für die Existenzsicherung aus, wenn die Inanspruchnahme entsprechender Angebote durch die Teilhabeleistungen grundsätzlich sichergestellt werden kann. Unschädlich ist auch, dass der Gesetzgeber das Existenzminimum im Bildungs- und Teilhabebereich durch Sach- oder Dienstleistungen (vor allem Gutscheine) und nicht durch Geldleistungen sichert, denn die Form der Leistungserbringung ist nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts grundsätzlich ihm überlassen. Ebenso wenig ist die Höhe der Teilhabeleistungen von 10 Euro monatlich für Mitgliedsbeiträge in den Bereichen Sport, Spiel, Kultur und Geselligkeit, Unterricht in künstlerischen Fächern (zum Beispiel Musikunterricht) und vergleichbare angeleitete Aktivitäten der kulturellen Bildung sowie die Teilnahme an Freizeiten nach Auffassung des 4. Senats verfassungsrechtlich zu beanstanden.

Az.: B 4 AS 12/12 R 1. F.A., 2. O.A., 3. A.T.A. ./. Jobcenter Delmenhorst

QUELLE: BUNDESSOZIALGERICHT - Pressestelle -Graf-Bernadotte-Platz 5, 34119 Kassel


Pressemitteilung des Bundessozialgerichts vom 2.11.2012:

Strafbares Verhalten führt nur zu Ersatzpflicht, wenn es auf die Herbeiführung von Hilfebedürftigkeit oder den Wegfall der Erwerbsfähigkeit oder -möglichkeit gerichtet ist

Der 1973 geborene Kläger wurde wegen einer im Juli 2003 begangenen Straftat (räuberischer Diebstahl in Tateinheit mit vorsätzlicher Körperverletzung, versuchte Vergewaltigung) zu einer zur Bewährung ausgesetzten Freiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt. Wegen des dringenden Verdachts, dass er die Geschädigte (erneut) telefonisch kontaktiere, war er vom 17. Januar 2005 bis zum 18. März 2005 in Untersuchungshaft. Der Arbeitgeber kündigte das Arbeitsverhältnis des Klägers zum 24. Januar 2005.

Der SGB II-Träger bewilligte der Ehefrau und der gemeinsamen, 2004 geborenen Tochter für die Zeit vom 15. Februar bis 31. März 2005 SGB II-Leistungen. Von dem Kläger verlangte er "Kostenersatz wegen schuldhaften Verhaltens" in Höhe von 1.477,41 Euro, weil dieser mit dem Verlust des Arbeitsplatzes infolge seiner Inhaftierung die Hilfebedürftigkeit von Ehefrau und Kind grob fahrlässig herbeigeführt habe. Das Sozialgericht hat die Ersatzbescheide aufgehoben. Auf die Berufung des Beklagten hat das Landessozialgericht das Urteil des Sozialgerichts abgeändert und die Klage abgewiesen: Durch seine strafbare Handlung habe der Kläger im Sinne von § 34 SGB II sozialwidrig ohne wichtigen Grund und zumindest grob fahrlässig gehandelt. Sowohl im Zeitpunkt des sozialwidrigen Verhaltens (Straftat im Jahre 2003) als auch bei Eintritt der Hilfebedürftigkeit (Untersuchungshaft im Jahre 2005) habe die Bedarfsgemeinschaft mit der Ehefrau und dem Kind existiert und während der Haft fortbestanden.

Das Bundessozialgericht hat mit Urteil vom 2. November 2012 der Revision des Klägers stattgegeben. Nicht jedes ‑ hier in hohem Maße gegebene ‑ verwerfliche Verhalten, das zu einer Leistungserbringung nach dem SGB II führt, hat eine Ersatzpflicht zur Folge. Erfasst wird nur ein "sozialwidriges Verhalten" mit spezifischem Bezug zur Leistungserbringung. Dies ergibt sich aus der Entstehungsgeschichte der Kostenersatzpflicht in ihrer Neufassung bei Einführung des Bundessozialhilfegesetzes sowie dem jetzigen systematischen Kontext des § 34 SGB II mit weiteren SGB II-Regelungen.

Die einschränkende Auslegung gilt auch für die Anwendung des § 34 Abs 1 SGB II, weil es sich um existenzsichernde und nur bedarfsabhängige Leistungen handelt, auf die ein Rechtsanspruch besteht und die grundsätzlich unabhängig von ihrer Ursache und einem etwaigen vorwerfbaren Verhalten in der Vergangenheit zu leisten sind. Dieser Grundsatz darf nicht durch eine weitreichende Ersatzpflicht unterlaufen werden. Zudem sind die zT vom Sozialhilferecht abweichenden Wertungen des SGB II bei der Einstufung eines Verhaltens als sozialwidrig im Sinne des § 34 SGB II einzubeziehen.

Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze ist das Verhalten des Klägers nicht als sozialwidrig im Sinne des § 34 SGB II einzustufen, obwohl es ‑ wie dessen strafrechtliche Bewertung zeigt ‑ in hohem Maße verwerflich ist. Anders als möglicherweise bei Vermögensdelikten besteht bei den hier im Mittelpunkt stehenden Straftaten keine spezifische Beziehung bzw kein innerer Zusammenhang zur Herbeiführung von Hilfebedürftigkeit nach dem SGB II. Das mit der Straftat im Jahre 2003 im Zusammenhang stehende, konkret zur Inhaftierung im Januar 2005 führende Verhalten des Klägers war in seiner Handlungstendenz nicht auf die Herbeiführung von Bedürftigkeit bzw den Wegfall der Erwerbsfähigkeit oder -möglichkeit gerichtet.

Az.: B 4 AS 39/12 R B. ./. Main-Taunus-Kreis

 

Hartz-IV-Wohnregelung verfassungswidrig?

1. Die Konkretisierung des Angemessenheitsbegriffs des § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II durch die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) zum "schlüssigen Konzept" ist nicht mit dem Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1  Abs. 1 Grundgesetz (GG) in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG vereinbar, wie es im Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 09.02.2010 - 1 BVL v 1/09, 1 BVL 3/09, 1 BVL 4/09 näher bestimmt worden ist.*)

2. Für eine Bestimmung des unterkunftsbezogenen Existenzminimums durch am einfachen Wohnstandard orientierte Mietobergrenzen fehlt es an einer den prozentualen Anforderungen des Bundesverfassungsgerichts genügenden und hinreichend bestimmten parlamentsgesetzlichen Grundlage.*)

3. Die Kammer konkretisiert den Angemessenheitsbegriff demnach nach Maßgabe des Grundsatzes der verfassungskonformen Auslegung in der Weise, dass unangemessen im Sinne des § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II lediglich Kosten der Unterkunft sind, die deutlich über den üblichen Unterkunftskosten für der Größe und Struktur nach vergleichbare Haushalte im geographischen Vergleichsraum liegen.*)

SG Mainz, Urteil vom 08.06.2012 - S 17 AS 1452/09

SGB II § 22 Abs. 1

Problem/Sachverhalt

Ein Arbeitslosengeld-II-Empfänger erhält vom zuständigen Jobcenter Leistungen nach dem SGB II. In den ersten sechs Monaten des Leistungsbezugs werden die tatsächlichen Kosten für Unterkunft und Heizung bezahlt. Nach erfolgter Kostensenkungsaufforderung wird nur noch die vom Jobcenter angemessene Miete von 241,93 Euro statt 465,62 Euro für einen Zweipersonenhaushalt bezahlt. Der ALG-II-Empfänger möchte sämtliche tatsächlichen Kosten der Unterkunft und Heizung in Höhe von 465,62 Euro gewährt erhalten. Das lehnt das Jobcenter ab. Dagegen richtet sich die Klage des ALG-II-Empfängers.

Entscheidung

Mit Erfolg! Leistungen für Unterkunft und Heizung werden gemäß § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II in Höhe der tatsächlichen Aufwendungen erbracht, soweit diese angemessen sind. Erfasst sind alle Zahlungsverpflichtungen, die sich aus dem Mietvertrag für die Unterkunft ergeben (BSG, Urteil vom 19.10.2010 - B 14 AS 2/10 R). Das BSG konkretisiert den Begriff der "Angemessenheit" (unter anderem BSG, Urteil vom 07.11.2006 - B 7b AS 18/06 R; Urteil vom 19.10.2010 - B 14 AS 2/10 R) in einem mehrstufigen Verfahren. In einem ersten Schritt ist eine angemessene Wohnungsgröße und ein angemessener Wohnungsstandard festzustellen. In einem zweiten Schritt ist räumlicher Vergleichsmaßstab zu bilden. In einem weiteren Schritt ist mit Hilfe eines "schlüssigen Konzepts" des Leistungsträgers die Höhe der Kosten für eine angemessene Wohnung zu ermitteln und anschließend zu überprüfen, ob eine abstrakt angemessene Wohnung durch den Hilfesuchenden konkret hätte angemietet werden können. Dabei werden nach den Ausführungsbestimmungen der Länder zu § 10 WoFG festgelegten Wohnungsgrößen berücksichtigt. Diese Ermittlung hält das SG für verfassungswidrig. Nach Überzeugung des SG Mainz sind die Kosten der Unterkunft aufgrund der Angemessenheitsvorbehalte nur dann nicht in tatsächlicher Höhe zu übernehmen, wenn die Kosten deutlich über den üblichen Unterkunftskosten für die Größe und Struktur nach vergleichbaren Haushalten nach geographischem Vergleichsraum liegen. Mithin muss der Leistungsanspruch nur in Fällen offenkundiger Missverhältnisse reduziert werden.

Praxishinweis

Das SG setzt sich ausführlich und auch lesenswert mit den Argumenten des BSG auseinander. Das Urteil des SG Mainz widerspricht dennoch gefestigter Rechtsprechung des BSG als auch sämtlicher Landessozialgerichte und wird wohl von sämtlichen genannten Gerichten ignoriert werden. Gängige Praxis vieler Sozialgerichte ist die Ermittlung der Angemessenheit der Kosten für Unterkunft anhand der jeweiligen landesrechtlichen Vorschriften zur Wohngeldtabelle zuzüglich eine Aufschlags von 10%, sofern kein "schlüssiges Konzept" des Jobcenters vorliegt. Es sollte dennoch versucht werden, für den Leistungsempfänger einen Zuschlag von 20% zu erhalten.

RA, FA für Miet- und Wohnungseigentumsrecht und FA für Sozialrecht Maik Fodor, Friedrichshafen

 © id Verlag

Pressemitteilung des Bundessozialgerichts vom 27.8.2011:

BSG  4 AS 1/10 R: Wertersatz bei rechtswidrigem Ein-Euro-Job

Die Klägerin begehrt die Zahlung von Arbeitsentgelt für Tätigkeiten, die sie in der Zeit vom 7. März 2005 bis 6. September 2005 im Rahmen einer von dem beigeladenen Jobcenter veranlassten Arbeitsgelegenheit mit Mehraufwandsentschädigung bei einem Träger der freien Wohlfahrtspflege verrichtet hat. Die im Jahre 1964 geborene Klägerin erhielt laufend Alg II. Mit Schreiben vom 2. Februar 2005 schlug ihr der Beigeladene eine "Beschäftigungsgelegenheit für Alg II-Bezieher" unter Benennung unterschiedlicher Tätigkeiten bei der Beklagten mit einer Arbeitszeit von 15-20 Stunden und einer Angabe zu "Lohn/Gehalt: 1 Euro" vor. Die Klägerin übte daraufhin eine Tätigkeit als Reini¬gungskraft in einem Altenheim mit einem Umfang von 20 Stunden pro Woche aus, die auf sechs Monate befristet war und für die eine Mehraufwandsentschädigung je geleisteter Beschäftigungsstunde in Höhe von 2 Euro gewährt wurde. Eine Klage der Klägerin gegen die Beklagte vor den Arbeitsgerichten auf Feststellung des Bestehens eines Arbeitsverhältnisses hatte keinen Erfolg. Die weitere, auf Zahlung von Arbeitslohn gerichtete Klage verwies das Arbeitsgericht an das Sozialgericht. Die Klage hatte in den Vorinstanzen keinen Erfolg. Der 4. Senat des Bundessozialgerichts hat mit dem Urteil vom 27. August 2011 das Urteil der Vorinstanz aufgehoben und den Rechtsstreit zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen. Keinen Erfolg hatte der Hauptantrag der Klägerin, mit dem sie gegen die Beklagte Vergütungsansprüche geltend macht. Ansprüche der Klägerin auf Arbeitsentgelt bestehen nicht, weil ihrer Beschäftigung kein Arbeitsverhältnis zugrunde lag. Sie hat in diesem Zeitraum vielmehr eine Arbeitsgelegenheit gegen Mehraufwandsentschädigung wahrgenommen; derartige Arbeiten begründen nach ausdrücklicher gesetzlicher Regelung kein Arbeitsverhältnis. Das Vorliegen einer Arbeitsgelegenheit gegen Mehraufwandsentschädigung ergibt sich aus den näheren Umständen des Zustandekommens sowie der Durchführung der Tätigkeit. Das Jobcenter hat die Arbeiterwohlfahrt mit Bewilligungsbescheid vom 21. Januar 2005 ausdrücklich mit der Schaffung von Arbeitsgelegenheiten mit Mehraufwandsentschädigung beauftragt. Der Beigeladene hat der Klägerin mit Zuweisungsschreiben vom 2. Februar 2005 eine Arbeitsgelegenheit gegen Mehraufwandsentschädigung für Alg II-Bezieher vorgeschlagen und mit der reduzierten Arbeitszeit und der Höhe der Mehraufwandsentschädigung Merkmale einer Arbeitsgelegenheit benannt. Die auf Veranlassung des Jobcenters verrichtete Tätigkeit stellte deshalb eine Arbeitsgelegenheit mit Mehraufwandsentschädigung dar. Es liegt keine Fallgestaltung vor, in der wegen eines gelösten Zusammenhangs zwischen der Vermittlung in eine Arbeitsgelegenheit und gänzlich abweichenden Tätigkeitsinhalten ein Arbeitsentgeltanspruch möglich sein könnte. Hinsichtlich des Hilfsantrags der Klägerin auf Wertersatz für die geleistete Arbeit im Wege eines öffentlich-rechtlichen Erstattungsanspruchs gegen das beigeladene Jobcenter ist die Revision im Sinne der Zurückverweisung an das Landessozialgericht begründet. Die für einen Erstattungsanspruch erforderliche Vermögensmehrung kommt jedenfalls dann in Betracht, wenn es an einer "Zusätzlichkeit" der Arbeitsgelegenheit fehlt. Da die Arbeit dann in Erfüllung einer Aufgabe erbracht worden ist, die in jedem Fall hätte durchgeführt werden müssen, ist beim begünstigten Jobcenter durch die ersparten, aber notwendig gewesenen Aufwendungen zur Erfüllung dieser Aufgabe ein Vermögensvorteil entstanden. Der Senat konnte auf Grund der Feststellungen des Landessozialgerichts nicht abschließend beurteilen, ob die von der Klägerin verrichteten Reinigungsarbeiten zusätzlich waren. Soweit es zu einer Vermögensmehrung insoweit gekommen sein sollte, muss sich das Jobcenter die von der Klägerin erbrachte Leistung ungeachtet des Umstandes zurechnen lassen, dass die Arbeitsgelegenheit bei der Arbeiterwohlfahrt durchgeführt worden ist. Kommt das Landessozialgericht zu dem Ergebnis, dass eine Zusätzlichkeit der Reinigungsarbeiten zu verneinen ist, wird es weiter zu prüfen haben, ob diese Vermögensverschiebung ohne Rechtsgrund erfolgt ist. Als Rechtsgrund für die Vermögensverschiebung kommen grundsätzlich ein bestandskräftiger Zuweisungsbescheid bzw eine Eingliederungsvereinbarung in Betracht. In dem an die Klägerin gerichteten Zuweisungsschreiben kann mangels abschließender Regelung kein Verwaltungsakt gesehen werden. Die hier fehlende Benennung der von dem Hilfebedürftigen konkret auszuübenden Tätigkeit ist unverzichtbar, weil allein das Jobcenter für die Eignung der Maßnahme im Sinne einer Eingliederung des Leistungsberechtigten verantwortlich bleibt.

 

Pressemitteilung des Bundessozialgerichts vom 10.5.2011:

Die Revision der Klägerin hatte keinen Erfolg. Sie hat keinen Anspruch auf höhere Leistungen im streitigen Zeitraum vom 1.1.2005 bis 30.6.2005. Die Klägerin hat insbesondere keinen Anspruch auf höheres Alg II mit Rücksicht auf einen Mehrbedarf wegen kostenaufwändiger Ernährung nach § 21 Abs 5 SGB II. Dieser Mehrbedarf kann nach dem Wortlaut der Regelung nur beansprucht werden, wenn Leistungsberechtigte aus medizinischen Gründen einer kostenaufwändigen Ernährung bedürfen. Hierbei sind mit medizinischen Gründen ausschließlich krankheitsbedingte Gründe gemeint. Dies ergibt sich aus der Entstehungsgeschichte und systematischen Gründen. Nach den Feststellungen des LSG liegen bei der Klägerin zwar verschiedene Krankheiten vor; diese verursachen jedoch keinen Ernährungsmehrbedarf. Auch der bei der Klägerin bestehende Diabetes mellitus Typ I bedingt nach der medizinischen Sachaufklärung durch das LSG im konkreten Einzelfall keinen besonderen Ernährungsbedarf. Ein Anspruch auf eine höhere Regelleistung wegen eines individuellen Ernährungsbedarfs besteht ebenfalls nicht.

SG Stuttgart - S 14 AS 1115/05 -
LSG Baden-Württemberg - L 12 AS 4179/08 -
Bundessozialgericht - B 4 AS 100/10 R -

QUELLE: BUNDESSOZIALGERICHT - Pressestelle -Graf-Bernadotte-Platz 5, 34119 Kassel

 

Pressemitteilung des Bundessozialgerichts vom 14.4.2011:

Das beklagte Jobcenter wurde verurteilt, an den Kläger den Betrag von 149,28 Euro, auf den der Kläger den Revisionsantrag begrenzt hatte, zu zahlen. Dem Kläger steht gegen den Beklagten ein öffentlich-rechtlicher Erstattungsanspruch zu. Bei der Arbeitsgelegenheit, die vom Kläger wahrgenommen worden ist, fehlte das Merkmal der Zusätzlichkeit. Maßgebend für den durch diese nicht zusätzliche Tätigkeit bedingten Vermögensvorteil bei dem Beklagten ist, dass dieser durch die Schaffung der Arbeitsgelegenheit und die Zuweisung des Klägers an den Maßnahmeträger die Arbeitsleistung veranlasst hat. Hinsichtlich der Höhe des Erstattungsanspruchs ist das LSG zunächst zutreffend davon ausgegangen, dass der Beklagte für die Arbeit des Klägers das übliche Arbeitsentgelt nach dem Tarifvertrag für das Speditionsgewerbe hätte aufwenden müssen und dem hieraus resultierenden Betrag die von dem Beklagten erbrachten Grundsicherungsleistungen (einschließlich der zu tragenden Aufwendungen für die gesetzliche Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung) gegenüber zu stellen sind. Anders als das LSG entschieden hat, können hierbei jedoch nur Sozialleistungen berücksichtigt werden, die der Kläger für die Zeit erhalten hat, in der er durch seine Arbeitsleistung eine Bereicherung des Beklagten bewirkt hat. Dies war hier der Zeitraum vom 25.4.2005 bis 18.5.2005. Das LSG hat demgegenüber zu Unrecht die gesamten Grundsicherungsleistungen für die Monate April und Mai 2005 berücksichtigt.

SG Mannheim - S 7 AS 952/06 -
LSG Baden-Württemberg - L 13 AS 419/07 -
Bundessozialgericht - B 14 AS 98/10 R -

 

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